- freie Künste: Bildung im Mittelalter
- freie Künste: Bildung im MittelalterDie »freien Künste«, im Lateinischen »Artes liberales«, sind ein Kanon von theoretischen Wissenschaften, die während des Mittelalters als Grundlage für die Erforschung und Erklärung der Welt angesehen wurden. Dieser Kanon, in dem das Wissen der griechischen Gelehrten zusammengefasst war, hat sich im Hellenismus herausgebildet und war zum ersten Mal im letzten vorchristlichen Jahrhundert von Varro in seinen »Disciplinarum libri IX« mit insgesamt neun Künsten festgelegt worden. Er hatte auch Medizin und Architektur zu den freien Künsten gezählt, andere Autoren das Recht. Der bis ins Mittelalter immer wieder modifizierte Fächerkanon bestand schließlich aus den drei »redenden« Künsten - Grammatik, Rhetorik, Dialektik - und den vier »rechnenden« Künsten - Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie.Varros Schrift ging verloren, deshalb kann man bei ihm nicht mehr nachlesen, wie er die Auswahl begründete. Cicero vermutete, dass es sich um Lehrinhalte handelte, mit denen zu beschäftigen nur einem freien Mann gestattet sei, im Gegensatz zu den »stumpfsinnigen« mechanischen Künsten. Seneca der Jüngere hob hervor, dass das Studium der freien Künste nicht dem Broterwerb diene. In diesen Erklärungen hat man eine - missverständliche - soziale Komponente sehen wollen, so als ob alle von den Artes liberales nicht eingeschlossenen Berufsfelder, insbesondere die handwerklich-technischen Berufe, von Unfreien und Sklaven ausgeübt worden wären. Es gibt aber Gegenbeispiele. Als der römische Senator Frontin von Kaiser Nero mit dem Amt des »Curator aquorum« betraut wurde, hielt er »nichts für so entehrend, als sich von Untergebenen die Ausführung einer übertragenen Aufgabe vorschreiben zu lassen«. Frontinus studierte daher selbst die technischen Aufgaben und Probleme der römischen Wasserversorgung und schrieb darüber ein Buch. Unter dem Einfluss des Christentums wandte sich Augustinus von der gängigen Definition der Artes endgültig ab und erkannte die befreiende Wirkung, die das Studium der Artes liberales auf die menschliche Seele hat. Seit Boethius, der um 524 starb, wurden die vier »rechnenden Künste« als Quadrivium, seit der Karolingerzeit die drei »redenden« als Trivium bezeichnet.Die Artes liberales beruhten schon in der Antike auf einem exklusiven Bildungsbegriff. Weder die von Aristoteles begründeten Biowissenschaften noch Physik und Mechanik konnten aus ihnen abgeleitet werden, und auch die an den mittelalterlichen Universitäten als »höhere« Wissenschaften angesehenen Disziplinen der Medizin, Jurisprudenz und Theologie hatten darin keinen Platz gefunden.Auf den Fächern des Triviums lag das Hauptgewicht der frühmittelalterlichen Bildung und Ausbildung.Die Grammatik - die unterste der Artes liberales - lehrte die lateinische Sprache, die ja seit der Völkerwanderungszeit mehr und mehr zur Fremdsprache wurde. Der Unterricht bestand aus einem theoretischen Teil, der Sprachlehre, und einem praktischen Teil, der Lektüre antiker Poeten. Bereits im frühen Mittelalter ist der Grammatikunterricht oft von den anderen Fächern abgetrennt worden. Angesehene Gelehrte, die sich auch mit dem Quadrivium befassten, brauchten sich der Grammatik in der Regel nicht anzunehmen. Dahingegen war die Grammatik während der finsteren, das heißt bildungsarmen Zeiten die einzige der theoretischen Artes, die an Klosterschulen überhaupt noch gepflegt wurde. Im Spätmittelalter ging aus der Grammatik eine »Ars poetica« hervor.Die Rhetorik, die im Hellenismus alle Bildung beherrschende »Ars«, verlor in der Spätantike zwar ihre praktische Bedeutung, nicht aber ihren Nimbus. Im Rahmen der Artes liberales war sie mehr die Ars des sprachlichen Ausdrucks als der gesprochenen Rede. Aus ihr entwickelten sich dann spezifisch anwendungsbedingte Lehrgebiete wie die »Ars dictandi« und die »Ars notariae«. Die Rhetorik spielte im frühen Mittelalter eine entscheidende Rolle in den präuniversitären Schulen zur juristischen beziehungsweise notariellen Ausbildung und wohl ebenfalls in der Erziehung der Kaufleute. Auch hier enthielt der Unterricht eine theoretische und eine praktische Komponente.Die Dialektik, die abstrakteste der trivialen Artes, lehrte ursprünglich nach platonischem Vorbild die logische Gedankenführung, zunächst im Gespräch (Dialog), im Mittealter aber zunehmend im Schriftstück. An den Universitäten entwickelte sich aus ihr eine »Ars disserendi« beziehungsweise »Ars disputandi«. In der Spätantike wurden hier aufgrund der von Boethius übersetzten logischen Schriften des Aristoteles und Porphyrios die theoretischen Grundlagen der Philosophie gelegt, an die im 12. Jahrhundert mit dem Auftauchen weiterer aristotelischer Texte und ihrer arabischen Kommentatoren, besonders Avicenna und Averroes, angeknüpft werden konnte. Im Zyklus der Artes liberales waren die Begriffe Dialektik und Logik austauschbar.War die Unterweisung im Trivium in Spätantike und Mittelalter unangefochten Teil der höheren Bildung, so musste für die Fächer des Quadriviums schon eine ausgeprägte Begabung vorhanden sein, die weder bei den Römern noch in den christlichen Reichen vor dem Jahr 1000 besonders gefördert wurde. So kam es, dass der Erkenntnisstand der Griechen weitgehend verloren ging und die antiken Schriften fragementarisch oder gar nicht überliefert wurden. Oft blieb nur ein praktischer Teil der Artes erhalten: elementares Rechnen (Logistik), elementares Vermessen, Kalenderberechnung (Computus) und Musikausübung (Cantus).Die Arithmetik, die von Boethius aus der Antike ins lateinische Mittelalter gerettet wurde, ist diejenige »Ars«, die vom Wesen der Zahlen und den in ihnen steckenden Möglichkeiten handelt. Die von den Römern nicht gepflegte Erkenntnis, nach der in der Kraft (»vis«) der Zahlen alle weitere Wissenschaft steckt, wurde oft missverstanden als Lehre von heiligen und magischen Zahlen.Musik oder Harmonielehre ist die Lehre von den Zahlenverhältnissen, von denen man einige auf dem Monochord sicht- und hörbar machen kann. Nach Boethius unterteilt sich die Musik in »Musica celestis« oder »mundana«, »Musica humana« und »Musica instrumentalis«. Die »Musica mundana«, Sphärenmusik, entsteht aus der vollkommenen Harmonie, nur die »Musica instrumentalis«, die wiederum auf denselben Zahlenverhältnissen basiert, ist für das menschliche Ohr durch Töne (»cantus«) hörbar.Geometrie ist die Lehre von Strecken, Flächen und Körpern, aus der die Römer die Landvermessung ableiteten. Seit etwa 1120 standen die »Elemente« des Euklid, die einen großen Teil der griechischen Geometrie enthalten, in lateinischer Übersetzung als Lehrbuch zur Verfügung. Auch war Geometrie mehrfach der Deckmantel, unter dem Wissenschaften liefen, die man anderswo nicht unterbringen konnte. So enthält das Geometriekapitel bei Martianus Capella fast ausschließlich Geographie, und der Mönch Richer von Reims berichtet in seinem Absatz über Gerberts von Aurillac Geometrieunterricht ausschließlich über ein neues Rechenbrett. Probleme der Geometrie, ebenso wie der Arithmetik, lebten im Übrigen in Aufgabensammlungen weiter.Astronomie war einerseits die Wissenschaft von den Sternbildern des Fixsternhimmels, andererseits die Kenntnis der Planetenbahnen und ihrer Berechnung sowie die Bewegung von Sonne und Mond. Aristoteles hatte ein System der Welt gelehrt, bestehend aus konzentrischen Sphären, mit der Erde im Mittelpunkt, das allerdings im Hellenismus aufgrund von Beobachtungen schon entscheidend modifiziert wurde. Ptolemäus hielt noch an der Theorie der Kreisbahnen fest, ergänzte sie aber durch Ausgleichspunkte (Exzenter) und Epizykel, die weniger der pyhsikalischen Vorstellung als der mathematischen Berechnung der Bahnen der Himmelskörper dienen. In den frühmittelalterlichen Bildungszentren wurde dieses Wissen mehrere Jahrhunderte lang nicht gepflegt. Der einzige Rest astronomischer Studien war die Beobachtung des Mondstandes, aus dem man den christlichen Festkalender, vor allem das Osterdatum, berechnete. Mit Gerbert von Aurillac, dem späteren Papst Silvester II., kehrte die Lehre über das Weltsystem und die systematische Sternbeobachtung in die mittelalterlichen Schulen zurück. Seit dem 13. Jahrhundert erwuchsen aus Astronomie und Geometrie neue, teils physikalische Wissenschaften wie Optik und Bewegungslehre. Bis in die Neuzeit hinein blieb die antike Tradition erhalten, aus Sternkonstellationen menschliche Schicksale zu erschließen. Die Himmelskunde wurde im Zyklus der Artes liberales synonym als »Astronomia« und »Astrologia« bezeichnet.Wie kein anderer frühmittelalterlicher Gelehrter repräsentiert Gerbert von Aurillac dieses von den Artes liberales geprägte Bildungssystem, weil er alle Artes beherrschte. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in der Spanischen Mark verbracht und war dabei mit der hoch entwickelten arabischen Rechenkunst und Astronomie bekannt geworden. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Studium, der Lehre und der Erforschung der Astronomie. Er benutzte in seinem Unterricht verschiedene Modelle und Instrumente, die schon in der Spätantike bekannt waren und verfasste eine selbstständige Schrift über den Gebrauch des Astrolabs, jenes komplizierten Beobachtungs- und Recheninstruments, das von arabischen Astronomen zur Perfektion gebracht worden war. Freilich hatte Gerbert feststellen müssen, dass nur wenige Schüler für die Unterrichtung im Quadrivium geeignet und motiviert waren.Als im 12. Jahrhundert die spätantiken und arabischen Wissenschaften durch Übersetzungen ins Lateinische nach Mittel-, West- und Südeuropa kamen, reichte das System des Artes liberales nicht mehr aus, dies alles aufzunehmen. In den im 13. Jahrhundert gegründeten Universitäten spielten sie nur noch die Rolle einer Propädeutik, die teilweise auch von den Schulen übernommen wurde. Dies liegt nicht nur daran, dass Medizin, Recht und Theologie in eigenen Fakultäten auftraten, sondern die freien Künste selbst waren einem Wandel unterzogen, der etwas anderes aus ihnen machte: Die Grammatik wechselte an die Lateinschulen, die zur Vorbereitung auf die Universitäten dienten. In Toulouse und anderen französischen Universitäten nahmen Grammatiker sich der neuen romanischen Sprache an, des Provenzalischen, der Langue d'oc, und des Französischen als den Sprachen der Troubadoure. Die Dialektik weitete sich zur Philosophie aus, und die Rhetorik ging zugunsten der sich verselbstständigenden Rechtswissenschaften verloren. Im Quadrivium ging es nicht viel anders: Nicht mehr Arithmetik, Geometrie und Astronomie wurden gelesen, sondern antike Autoren, vor allem Euklid, Boethius und Ptolemäus; und die Harmonielehre verschwand ganz aus dem Schul- und Universitätsunterricht. Das Quadrivium wurde auch nicht - wie die Grammatik - Schulstoff. Neben die bereits erwähnten Lateinschulen traten zwar im 14. Jahrhundert Rechenschulen, aber sie lehrten den Umgang mit dem elementaren Rechnen sowie praktische Fertigkeiten wie das Umrechnen von Maßen, Gewichten und Währungen. Die Schüler dieser Einrichtungen wurden nicht auf die Universität vorbereitet, sondern auf Handwerk und Gewerbe.Eine Aufgabe der Klöster, die im Früh- und Hochmittelalter die Hauptlast der Überlieferung des Schriftgutes getragen haben, bestand im Computus, das heißt in der Feststellung des Ostertermins eines jeden Jahres, von dem der übrige christliche Festkalender abhängt. Da Ostern vom Mond bestimmt wird, musste dessen Lauf vorherberechnet werden, was - auf längere Sicht - wegen seiner Anomalien keine ganz triviale Aufgabe war. Beim Nachrechnen von Festterminen bemerkte der englische Mönch Beda Venerabilis in den ersten Jahrzehnten des 8. Jahrhunderts, dass einerseits große Nachlässigkeit bei deren Überlieferung herrschte, andererseits der julianische Kalender bei längerer Dauer zu immer größeren Abweichungen von den ursprünglich festgelegten Terminen führte. Dies stellte im 13. Jahrhundert auch Roger Bacon fest, als der julianische Kalender schon um sieben Tage abwich. Aber er und seine Zeitgenossen fühlten sich der Aufgabe einer Kalenderreform, die dann erst 1582 stattfand, nicht gewachsen, weil ihre Kenntnisse des Sonnen- und Mondlaufes noch ungenügend waren.Ebenfalls der Astronomie verwandt und doch nicht zu ihr gehörend waren die Kosmographie und die Geographie, von denen die Erde zunächst als Himmelskörper beschrieben wurde, dann in ihrer physischen Beschaffenheit und schließlich in der Länderkunde als der Tummelplatz verschiedenartiger Völker. Ihre Überlieferung geht auf Plinius zurück und findet ebenfalls ihre erste mittalterliche Bearbeitung durch Beda Venerabilis. Die kosmographische Überlieferung, zu der Albertus Magnus und Roger Bacon im 13. Jahrhundert durch Einbeziehung astrologischer Überlegungen beitrugen, erklärt das hohe geographische Bildungsniveau, aus dem heraus einerseits im 13. Jahrhundert die Portulane (Seekarten) hervorgingen, andererseits der Sprung der Genuesen, Spanier und Portugiesen im 15. Jahrhundert über den Atlantik, das heißt die Kenntnis der Regeln für die Hin- und Rückfahrt nach und von Amerika, möglich wurde.Die naturkundliche Bildung der Nonne Hildegard von Bingen betraf einen anderen, nicht von den freien Künsten abgedeckten Bereich, die Tier- und Pflanzenwelt ihrer mittelrheinischen Heimat. Dies war ein erster Schritt, über die antiken Vorbilder - Aristoteles, den »Physiologus« und Plinius - hinauszugehen und sich den heimischen Gewächsen und Tieren zuzuwenden, die in den antiken Schriften nur zum Teil vorkamen. Im Bereich der Flora waren die Heilpflanzen für Hildegard von besonderem Interesse, deren Beschreibung ihre große Erfahrenheit spiegelt. Mit viel weiter gehender Kennntnis des antiken und arabischen Schrifttums sehen sich im 13. Jahrhundert Albertus Magnus und im 14. Jahrhundert Konrad von Megenberg vor dasselbe Problem gestellt, dass sie mit der Beobachtung und Beschreibung der heimischen Flora und Fauna den antiken Rahmen zu sprengen beginnen. Hier wurde im Spätmittelalter eine enorme Sammelaktivität in Gang gesetzt, auf deren Basis die frühe Neuzeit zu einer neuen Systematik ansetzen konnte.Ganz anders war der Kreis der Benutzer und Ergänzer der Rezept- und Probierbücher im Stile des Theophilus Presbyter zusammengesetzt. Zum Teil waren es Gelehrte, die sich auch alchemistisch betätigten, zum Teil hochspezialisierte und -qualifizierte Handwerker in metallurgischen Berufen, bei der Farbherstellung, Glasbläserei und bei anderen chemisch-technischen Verfahren wie der Lederbearbeitung. Die moderne Analyse der mittelalterlichen Produkte und ein Vergleich mit den lateinisch abgefassten Schriftquellen erweisen, dass hier Wissen über Jahrhunderte tradiert und erweitert wurde.Auch auf die Handwerkskunst der Dombaumeister muss hier verwiesen werden. Bei den Römern war die Architektur bereits zu einer Kunst gediehen, die durch Vitruvs Handbuch »De architectura« die Jahrhunderte überlebte. Aus den römischen Lehren schöpften die romanischen und gotischen Baumeister zunächst allerdings nicht, ohne dass wir jedoch wüssten, wie sie ihre Überlegungen und Kalkulationen anstellten. Mit Sicherheit dürfen wir aber diese Handwerkertraditionen, aus denen ganz wesentliche Objekte der abendländischen Kultur hervorgingen, in den mittelalterlichen Bildungsbegriff einbeziehen.Prof. Dr. Uta Lindgren
Universal-Lexikon. 2012.